Das Törchen


 

 

Lange hat sie geschlafen. Hat geträumt von blühenden Sommerwiesen, bunt gefärbten Wäldern, Tierspuren im Schnee und kleinen Wirbeln in laut rauschenden Schmelzwasserbächen, die den ersten Krokussen am Ufer ein sonniges Hallo zuriefen, bevor sie hinter der nächsten Biegung verschwanden. Jahr für Jahr war so an ihr vorübergezogen und nur manchmal hatte sie in all der Pracht den leisen Wunsch verspürt, aufzuwachen. Es war, als ob sie dann etwas lockte, etwas rief und sie spürte kurz ihren Herzschlag und das Blut warm bis in die entferntesten Winkel ihres schlafenden Wesens strömen. Meist waren es Stimmen gewesen. Rauhe Stimmen von Männern, die sich etwas zuriefen. Sanfte Stimmen von Frauen, die ihren Kindern ein Lied sangen oder fröhliches Kinderlachen. Doch kaum hatte sie ihren Geist darauf ausgerichtet, kaum das erste Wort verstanden, schon waren die Stimmen wieder verstummt und nur die Klänge der Natur drangen noch an ihr Ohr.
Ob es Jahrzehnte waren, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende, die sie geträumt hatte, wusste sie nie. Zeit ward ihr so reichlich gegeben, dass sie bisher keinen Gedanken daran verschwendet hatte. Sie war einfach.

Doch nun, da sie endlich erwacht ist, tauchen Fragen auf.
Wer bin ich?
Was bin ich?
Wo bin ich?
Wofür bin ich gut?
Warum ist es so dunkel um mich herum?
Jede dieser Fragen verlangt ungeduldig nach einer Antwort. Jede von ihnen will zuerst beantwortet sein. So erfährt sie staunend, dass Drängeln Zeit erzeugt. Knappe Zeit. Zeit, in der sich die Gedanken drehen wie die Wirbel der Frühlingsbäche. Zeit, in der die Antworten genauso schnell wieder verschwinden wie sie auftauchen. Genau wie die Stimmen vorher in ihrem Traum. Nur dass jetzt nichts zieht und ihr Herz still bleibt. Nur etwas schwindlig wird ihr dabei.

"Seltsam," denkt sie," eben noch sind die Welt und die Zeit an mir vorübergezogen. Ich war ruhig und alles um mich herum war bunt und lebendig. Jetzt bin ich erwacht, mitten in ihnen und um mich herum ist nur Dunkelheit."

Wieder beginnen die Fragen in ihr aufzutauchen. Nirgendwo ist Etwas, an dem sie sich orientieren kann. So lässt sie die Gedanken vorüberziehen wie vormals im Traum die Jahreszeiten und wartet.

Wartet. Bis eine aufgeregte Kinderstimme vor ihr in der Dunkelheit ertönt.

"Mama, darf ich schon das Törchen am Adventskalender aufmachen?"
"Gerne, mein Schatz!" antwortet eine freundliche Frauenstimme.
Nun wird es plötzlich hell. Strahlende Kinderaugen löschen augenblich Welt und Zeit, alle Fragen und Antworten.
Kleine warme Finger greifen nach ihr und stecken sie flugs in den Mund.
Kaum ist ihre Schokoladenhülle geschmolzen, weiß die Muse, dass sie angekommen ist. Sie spürt das Ziehen, hört das freudige Pochen des Kinderherzens und fliesst mit dem warmen Blut bis in die letzten Winkel seines Wesens.