Der alte Sack
Da sitze ich Krümelmonster nun vor meinem Leben wie vor der Klagemauer in Jerusalem. Wie das sprichwörtliche Kaninchen vor der Schlange oder noch besser: Ein
vergessener Katoffelsack im Keller. Ob Winter, Frühling, Sommer oder Herbst, Alles ist gleich und meine Triebe verfaulen zusehends. Manchmal, wenn die Kellertüre aufgeht, etwas Licht in meinen
verlässlich tristen Alltag fällt, erwacht mein Geist, schöpft Hoffnung und findet es sogar schon aufregend, die Staubfäden in den Ecken des Kerkers, in dem ich gefangen bin, mit den mir noch
verbliebenen Augen zu sezieren. Dann fühle ich mich wie ein Sprinter und warte auf den Startschuss. Doch der Typ mit der Pistole ist scheinbar völlig inkompetent und findet den Abzug nicht. So
vergeht die Startzeit und schon kurz nachdem die nackte Birne erlischt, die Kellertüre zugeht, wird mein Geist müde. Dunkelheit umfängt mich wieder. Kurz wehre ich mich noch, beschwöre alte
Zeiten herauf. Werde von schrundigen Händen in frisch aufgehäufte duftende Erde gedrückt, spüre die stetig steigende Wärme von oben und strecke hoffnungsvoll meine Triebe in ihre Richtung. Oder
ich erlebe als Leinsaat, wie der Schnitter mich nah am Boden kappt, werde zu Fäden versponnen, zu Sackleinen gewoben und zu dem ausgebeulten Behältnis vernäht, in dem jetzt meine Triebe
darben.
Irgendetwas sollte geschehen.
Denn mein ursprünglicher Traum, einmal als köstliche Kartoffelsuppe oder knusprige Bratkartoffel den Gaumen hungriger und fröhlich zusammensitzender Menschen zu kitzeln, darf ich angesichts
meines jämmerlichen Zustandes wohl aufgeben.
Doch was tun? Was für Chancen hat solch ein alter Sack, der sich selbst und seine Träume schon lange aufgegeben hat?
Richtig. Er muss die Kartoffelsuppe vergessen und mit dem restlichen Leben in seinen Trieben neue, gänzlich andere Träume spinnen. Spinnen und Weben sind ihm ja zumindest schon hinlänglich
bekannt.
Das Kaninchen vor der Schlange? Nein. Das Leben hätte zwar Biss, doch genauso zu seinen Ungunsten. Also muss es etwas sein, das ihm auch im Innersten entspricht und trotz Alledem in eine völlig
neue, bislang unbekannte Welt führt.
Da ich mittlerweile begriffen habe, dass ich nicht nur der Sack und die runzeligen Kartoffen bin, sondern auch der Keller, das Licht, die Türe, ja sogar das ganze Haus und der Mensch, der meinen
Wert samt meiner wertvollen Triebe vergisst, werde ich das nächste Mal mit ihm nach oben steigen.
Sicher finde ich weiter oben, wo Fenster und Türen mehr Licht in mein Leben lassen, einen lohnenderen Lebenssinn. Und wenn es mir dort auch noch zu eng ist, kann ich sogar in einem günstigen
Moment mit nach Draussen schlüpfen.
Ich muss nur aufpassen, dass ich mich auf dem Markt der Möglichkeiten nicht wieder vor Angst oder Ungeduld in einem Kartoffelsack verstecken!