Hinter den Hecken der Zeit

 

 

Kurz bevor Dornröschen einschlief, sank ihr der Kopf und ihr Blick fiel auf den Teppich am Boden.

¨Seltsam,¨ dachte sie, ¨der war doch vorhin eher grau-braun, staubig und hässlich. Jetzt leuchten die Farben um die Wette und mir scheint, da bewegen sich die Fäden und bilden neue Muster!¨ 

Ihr Kopf sank noch tiefer und die Welt um sie herum stand still. Gutes wie Böses, Lautes und Leises, Schnelles und Langsames, ja selbst die emsigen Bienen und der Vogel mit dem Wurm im Schnabel blieben einfach stehen. Als ob Gott vergessen hätte, wo er den Schlüssel für die Welt hingelegt hat und sie nun nicht mehr aufziehen kann. 

Doch Dornröschen bemerkte davon nichts mehr. Während ihr Kopf zum Kinn gesunken, war der Teppich vor ihren Augen verschwommen, war größer und größer geworden, lauter und lebendiger. Das Erste, was sie wieder klar wahrnahm, war das Gefühl eines zappelnden Wurmes in ihrem Schnabel und der liebevolle Blick ihrer Mutter, die sich kurz das Gefieder putzte und tirili wieder von dannen flog. Mittlerweile zappelte der Wurm in ihr nicht mehr. Dornröschen war satt und müde. Sie plusterte sich auf und ruckelte sich im Nest zurecht. 

Bevor ihr nun die Augen zustiegen, war ihr, als ob die Ästlein und Fäden des Nests immer größer würden und statt einzuschlafen, hing sie nun mitten im Urwald an ihrem Schwanz, baumelte hin und her und versuchte mit dem rechten Ärmchen den Ast von der Nachbarkrone zu erwischen. Rings um sie herum war Luft, Licht und Grün in allen Schattierungen und Kakaduse flatterten lärmend über sie hinweg. Sie griff mit ihrem Patschhändchen daneben und hing nur am Schwanz kopfüber in schwindelerregender Höhe. Noch bevor sie anfing vor Schreck zu kreischen, griffen die starken Arme der Mutter zu, und sie kuschelte sich in deren weiches,duftendes Fell. Erschöpft von diesem Abenteuer schloss sie die Augen, hatte noch das unbestimmte Gefühl, dass Mutters Fell zu fließen anfing und feucht roch wie der Wasserfall unten am Boden.

 

Sie schlug mit ihrer Schwanzflosse, das Wasser tobte brodelnd an ihr vorbei und sie kämpfte sich Stein für Stein, Stufe für Stufe vorwärts. Als ihr Instinkt sie nicht mehr vorwärts trieb, ließ sie sich auf den Boden sinken und legte ihre kostbare Fracht in die Mulde, die sie gerade gefächelt hatte. Jetzt war ihr Auftrag erfüllt. Endlich konnte sie ausruhen. 

 

Wie sie aus den Schuppen in den sehnigen Körper, mit den Krallen, die den Fisch dem Wasser zogen, gekommen war, wusste sie nicht. Doch das war ihr als Falke auch ziemlich egal. Schnell stieg sie wieder hoch in die Lüfte, um den Fang zu den Jungen zu bringen. Bald schon war sie wieder unterwegs und stieg mit den Aufwinden spiralförmig Richtung Sonne.

Sie fühlte sich frei, wurde leichter und leichter und ein unbeteiligter Zuschauer hätte den Eindruck gehabt, sie flöge direkt ins Licht. Sie selbst fand sich als Lichtteilchen wieder und reiste mit anderen Teilchen zusammen in einem Sonnenstrahl Richtung Erde.

Dort kitzelte es die Prinzessin in der Nase und tanzte mit den anderen Lichtteilchen Ringelreihen auf ihren Lidern. 

Dornröschen rieb sich die Nase und öffnete unwillig die Augen. Doch da rings um sie herum wieder alles zum Leben erwachte und der Schmerzensschrei des Küchenjungen sie mit dem Grummeln in ihrem Bauch zusammen daran erinnerte, dass sie seit langem nichts mehr zwischen die Kiemen bekommen hatte, richtete sie sich auf und wunderte sich über all die schönen Rosen und den süßen Duft, der nun in der Luft lag.

Ob es da einen Prinzen gibt oder nicht, ist nun auch völlig Schnuppe! Soviel Wandel und Reichtum wie sie gerade erfahren hat, kann sie nicht mehr so weiter machen und das brave behütete Prinzesschen bleiben. Zumindest ist ihr klar, dass sie nur den heiraten wird, der mit ihr als Lichtteilchen mit dem Staub tanzen, als Äfflein in den Kronen der Urwaldriesen Fangen spielen oder zusammen mit ihr einen prächtigen bunten Teppich knüpfen wird. 

Die Welt neu entdecken. Wie es wohl wäre, als Blitz oder Wassertropfen zur Erde zurückzukehren. Als Baum langsam zu wachsen. Sich als Wind in Segeln zu legen oder im Frühjahr mit warmer Zunge an den Schneehängen zu lecken?