Kerzenerleuchtung

 

 

Langsam lief das Kerzenwachs nach unten und verlor auf dem Weg immer mehr seine Hitze und seinen Schwung. Amanda Rinelotti sass sinnend am Tisch, den Kopf schwer in die Hände gestützt und beobachtete das Schauspiel. An und für sich hätte es ein gutes Beispiel für ihr Leben sein können. Ein heisser, schneller, vielversprechender Start und kurz darauf die Abkühlung und ein zähes Ende.
Doch die Kerze gab nicht auf. Kaum war der letzte Tropfen hängengeblieben, schon schickte sie den nächsten auf die Reise zur Tischdecke. Auch dieser bremste ab und blieb über seinem Vorgänger hängen. Wieder folgte einer und wieder.
Auch das kannte Amanda. Selbst unter den widrigesten Umständen, weigerte sich Etwas in ihr aufzugeben. Zumindest wenn sie wusste, was sie wollte.
Dann war sie genau so unermüdlich wie diese Kerze. Steter Tropfen versaut die Tischdecke. Genau in dem Moment, als sie dies dachte, schaffte es das erste Wachs, sich über die angewachsene Hürde wie ein Skispringer in die Tiefe zu stürzen und hinterliess einen runden, etwas gezackten und wächsern bleichen Fleck auf dem samtigroten Deckchen unter dem Kerzenständer. Nun, er wenigstens war an sein Ziel angelangt. Doch was hatte er damit gegenüber seinen Vorgängern schon Besseres erreicht? Wie diese war er nun erstarrt und zu keiner weiteren Bewegung mehr fähig. Nur eine scharfe Klinge, das Bügeleisen und den Abfluss der Waschmaschine hatten seine Reste noch zu erwarten. Oder höchstenfalls den missbilligenden Blick der Hausfrau. So gesehen waren seine Kameraden zuvor besser dran. Ihren Anblick am Schaft der Kerze mochte mensch.
Amanda nahm eine Hand vom Kopf und kratzte versonnen den Wachs mit einem ihrer spitzen Fingernägel vom Stoff. War ihre Situation wirklich so aussichtslos, dass sie sie mit dem Schicksal des Kerzenwachstropfens vergleichen sollte?
War es nicht so, dass sie mit ihrem Ziel wie so oft zuvor auf der Strecke blieb, weill sie zu heissblütig begann und trotz wohlmeinender Warnungen immer wieder das Gleiche versuchte, obwohl sie genau wusste, dass sie damit nicht wesentlich weiter kam. War es nicht so, dass sie wie der Tropfen vor ihr, vor der Hitze floh und auf diese Weise immer weiter weg von der Wärme kam, die sie sich so heiss ersehnte? Von der Warte aus gesehen war der Absturz voraussehbar. Wenn sie nicht solch eine verteufelte Angst vor der Nähe hätte, wenn sie sich nur trauen würde, sich der Hitze der Gefühle ganz hinzugeben, wirklich zu entfammen. Sie sah es ja gerade vor sich. Vielleicht könnte sie sich dann am Morgen im Spiegel endlich auch hell und strahlend sehen, wie jetzt diese Kerzenflamme. Vielleicht verliefen ihre Liebesbeziehungen endlich anders. Beglückender! Würden nicht wie bislang in Klassifizierungen wie Benutzer und Benutzte enden. Sie hatte den Kragen so voll von all den Enttäuschungen, den halbherzigen Versuchen. Sie wollte nicht mehr die vorhersehbare emotionale Umweltkatastrophe für Freunde und Kollegen sein. Als mindestens siebenfache Weltmeisterin im Männerweitwurf durfte sie sicherlich ohne Skrupel abdanken und anderen Frauen diese Disziplin überlassen, oder?
Sie nahm den Kopf aus der zweiten Hand, richtete sich auf und blies die Kerze aus.
Auf was für seltsame Gedanken einen doch so eine Kerze brachte!
Kurz darauf sah der Flurspiegel das erste Lächeln Amandas seit Langem.