Wie die Langeweile und ich meinen Freund Kasimir umbrachten

 

Kasimir war ohne Frage der hellste Kopf unserer Schule. Was sage ich? Unserer Stadt. Mindestens. Damals zumindest.

Während wir in der Oberstufe des Nachmittags versuchten, wenigstens einen Teil der Matheaufgaben richtig zu lösen, lag er schon am Strand des nahen Baggersees und übte sich im Flirten mit den jungen Müttern, die dort in Rudeln herumlagen und gelangweilt ihren Kindern beim Sandeln und Streiten zusahen. Wenn wir endlich kamen, trug er meist die Tasche einer der Damen nach Hause. Natürlich nur, um ihr dort den Rasenmäher zu reparieren oder das schreckliche Quietschen des Ehebettes samt deren lästigen Schlüpfers zu beseitigen. Natürlich nicht, ohne es danach erfolgreich zu testen.

Neben unserem ungeteilten Neid fuhr er auch noch, sozusagen um Vorbeivögeln, äh Flug die besten Zensuren ein. Welchen Anteil seine geschickten Komplimente nicht nur an die Lehrerinnen daran hatte, konnten wir anderen Jungs damals noch nicht wirklich einschätzen. Kurz und gut. Er war in vielerlei Hinsicht ein Naturtalent, und ihm schien ohne Zweifel eine glorreiche Zukunft offen zu stehen. Die Mischung aus Verkommenheit und Adlerblick für günstige Gelegenheiten, gepaart mit Frechheit und doch grenzenloser unschuldiger Naivität brach spielerisch alle Widerstände, die es wagten sich seinen Ideen in den Weg zu stellen. Selbst wir, die wir allen Grund gehabt hätten, ihn in heftigster Mißgunst zum Teufel zu wünschen, verfielen seinem Charme immer wieder aufs Neue.

Man konnte ihm einfach nie ernsthaft böse sein. Er war der geborenen Herzensbrecher.

Das ihm dies einmal buchstäblich den Hals brechen würde, konnte und wollte damals noch niemand ahnen.

 

Zwanzig Jahre später begegnete ich ihm wieder. Und erschrak. Zwar strahlten seine Augen noch immer die selbe Unschuld und Sorglosigkeit aus, die ihm damals die Herzen aller zufliegen ließ, doch hatte er ungefähr den dreifachen Umfang. Er hatte kurz nach dem Abitur eine Millionärswitwe kennengelernt, ihr ihre Tasche nach Hause getragen und auch das Quietschen an ihrem verwaisten Ehebett samt störendem Schlüpfer beseitigt. Auch danach erfolgreich getestet. Mehrfach. So lange, bis auch das Quietschen der Millionärswitwe eines Nachts abrupt endete. Jedermann nahm ihm ab, dass er sein Bestes gegeben hatte, sie glücklich zu machen. der Arzt, der den Totenschein ausstellte, die Kripo, die den Verdacht auf Erbschleicherei schnell fallen ließ, sogar die Kollegen vom Jacht- und Golfclub, die ihre Rollex für seine Unschuld verwettet hätten.

Man hätte vermutet, dass er sich nun weiteren aufregenden Abenteuern zuwenden würde.

Doch weit gefehlt. Zumindest vorerst. Er, der sich im Leben noch nie anstrengen musste, irgendein Ziel zu erreichen, sich überhaupt Ziele zu setzen, stand nun da und begann sich zwischen all seinen Millionen zu langweilen. Sah bald auch keinen Sinn mehr darin, bei Golfturnieren und Segelregatten zu glänzen, denn mit steigender Leibesfülle sah er immer weniger ein, sich der Anstrengung von Bewegung auszusetzen. Geküsst wurde er ja immer noch. Wenn es auch nicht mehr wegen seines Charmes und des jugendlichen Adoniskörpers war. Hauptsache geküsst. Und gelangweilt. Wie schon gesagt.

 

Dann, ich erinnere mich daran, als ob es gestern wäre, trafen wir uns. Beziehungsweise reparierte ich die Whirlpoolautomatik seines Hallenbades. Denn ich war kurz zuvor wieder in meine Heimatstadt zurückgekommen und hatte dort den Job beim Sauna- und Poolbauer Blasenreich angenommen, um meine Mutter öfter besuchen zu können. Sie war seit dem Tod meines Vaters rapide gealtert und ich wollte sie nicht in einem Altersheim verkümmern lassen. Denn "einen alten Baum soll man nicht mehr umpflanzen", hatte schon mein Großvater gesagt.

Ok. Ich klingle also an der Türe, eine schwindelerregende Schönheit mit Minirock und schwarzer Schürze öffnet mir die Türen zum Schloß und zwei Minuten später blicke ich in die Augen, die ich mein Lebtag nie vergessen hatte.

Stutze. Die Kinnlade fällt mir herunter. Schüttle unwillkürlich den Kopf. Will und kann es nicht glauben. Kasimir. Der Herzensbrecher. XXXL.

Er schaut zuerst fragend, dann taucht ein erkennendes Lächeln auf seinen Lippen auf.

Erstirbt wieder. Eine Ewigkeit scheint zu vergehen. Dann frägt er leise: "Egon?"

Ich nicke, kann immer noch nichts sagen. Das Erschrecken scheint mir überdeutlich ins Gesicht geschrieben.

Was genau in ihm vorging, weiß ich nicht zu sagen. Ich sah nur, wie es hinter seinem aufgequollenen Gesicht mit den Hängebacken arbeitete. Scheinbar all die vergangenen nutzlosen Jahre in Sekundenschnelle an ihm vorbeizogen. Dann fasste er sich wieder, wuchtete sich aus dem Liegestuhl, watschelte zu mir und umarmte mich minutenlang.

 

Ab da gewöhnte ich mich schnell an den Anblick der bezaubernden Türöffnerin.

Fast täglich besuchte ich ihn, bevor ich zu meiner Mutter ging. Ich schien alleine durch mein Dasein seine alte Lebendigkeit wieder wach zu rufen. Innerhalb Monatsfrist nahm er seine alten Hobbys wieder auf. Legte sich sogar kurzerhand ein Fitnessstudio zu und begann schon bald den Tag mit Joggingrunden zu beginnen. Obwohl wir nie darüber geredet hatten, was mein Erschrecken bei ihm ausgelöst hatte, zeigte mir sein Minenspiel bei jeder Begegnung, wie dankbar er für mein Erscheinen war.

Und nicht nur das, er überhäufte mich geradezu mit kostbaren Geschenken. Der Bugatti, der ungenutzt in seinem Fahrzeugpark dahinvegetierte, war nur der Anfang. Freilich wusste ich damals noch nicht, dass er mich zu seinem Universalerben eingesetzt hatte.

Ich hätte es rundum abgelehnt. Denn ich freute mich so sehr an seiner neuen Lebendigkeit, dass mir materielle Dinge dagegen wertlos erschienen. Denn auch ich hatte mir meine Naivität bewahrt, und genoß es einfach nur, ihn damit wieder erweckt zu haben.

Zu allem Überfluß kam dazu, dass die bezaubernde Schurzträgerin mir von Tag zu Tag mit immer bezaubernderem Lächeln die Türe öffnete.

Bei unsere Hochzeit, die natürlich er ausrichtete,"Ehrensache" war sein letztes Wort bei meinem Protest, passierte dann das Unheil. Die Kutsche fuhr nach der Trauung vor der Kirche vor. Elena und ich stiegen ein. Er, im Kopf schon viel leichter als sein noch immer massiger Leib, schwang sich auf den Kutschbock. Als das Trittbrett brach, versuchte er sich mit der Peitsche abzufangen und traf eines der schon nervös trippelnden Pferde am Hinterlauf. Wir merkten erst was geschehen war, als die Pferde nach einigen hundert Metern wieder stehen blieben.

Wenn ich heute, fast ein Jahrzehnt später, darüber nachdenke, beginne ich hinter der Trauer ein neues Gefühl zu entdecken. Köpfen ist zwar eine recht brutale Art das Leben zu beenden, doch irgendwie immer noch besser und würdiger, als an schleichender Herzverfettung zu sterben. Eigentlich hätte man ihm, dem wiedergeborenen Lebemann und Abenteurer keinen stimmigeren Abgang wünschen können.

So haben die Langeweile und ich meinen Freund Kasimir ermordet.