Dem Glück auf den Versen - Oma Kasulke

 

 

 

 

In dunkler Nacht
der Sterne Kranz
verschwindet hinter Wolkenfetzen

Ganz
leise wolln sich Zweifel setzen
in Augenwinkels winzig Glanz

Wolln Ungeheuer
wieder wecken
doch diesmal lacht
der Narr

Vom Herzens Grunde
Flämmlein lecken
den Seelenhimmel rein

Ein Lächeln klein
in Aug - am Munde
wischt Herz und Himmel klar

Mit Macht
blinken die Sterne wieder
wie Augenzwinkern gar

Vom Dome her
die Glocken leuten:
Das Leben

Bis eben
schwer -
jetzt ists
als obs nie schöner wär!



So lag das vergilbte Gedicht seit Jahrzehnten zwischen zwei Buchrücken eingeklemmt im Speicher von Oma Kasulke ( würde Kalle ausn Ruhrpott als Name jefalln, aber Oma speicherte im Wonnegau ).
Als es sich nun begab, das besagte Oma Kasulke endlich der Welt den gebeugten Rücken kehrte ( schließlich hatte sie nun lange genug unter den gestrengen Augen der Eingeborenen ordentlich Hof, Küche und Treppe gekehrt ), fielen ihre Verwandten wie Heuschrecken auf Fresstour in das nun ungekehrte Häuschen ein. Sie fegten ob ihrer Habgier in Windeseile durch die Etagen und wirbelten dank ihrer hektischen Unachtsamkeit einigen Staub auf. Genauso schnell verteilte sich entschlossene Uneinigkeit in den Räumen und Wolken zogen auf. Wolken der Missgunst . Wolken des Zorns. Und um es nicht zu verschweigen, geschweige denn seine für diese Geschichte äußerst wichtige Bedeutung zu mindern: Wolken der Trauer im Herzen Annegrets und ihrer Kinder Nina und Nino.
Denn sie waren es, die der Versuchung widerstanden, die zu erbenden Dinge nach ihrem materiellen Glanz zu bewerten. Schon zu Leb- und Lebkuchenzeiten ( Oma Kasulke liebte Lebkuchen wie ihre Kittelschürze ) bekamen die Dinge ihren Glanz durch das Strahlen von Oma Kasulkes Augen.
So wurde der alte verbeulte Alutopf zur silbernen Krone des gütigen Kartoffelkönigs, den die alte Frau während der gemeinsamen Abendessen immer wieder auferstehen ließ. Der Kartoffelkönig war Opa Kasulke mit seiner Knollennase gewesen, als er ihr noch jeden Morgen mit seinen Gummistiefeln das frisch gewienerte Parkett mit Gartenerde versaut hatte. Wenn sie daraus den heissen Kinderpunsch in die Besuchertassen füllte, lief ihr immer ein Tränchen die Wange hinunter, welches sie mit einem Zipfel der geblümten Kittelschürze wegwischte. Dann lächelte sie wieder und sagte jedesmal: "Heiss war er auch, mein Franz - als er jung war. Zum Finger verbrennen dran. Und oft genauso voll!" Dann grinste sie über alle vier Backen.

An besagtem Tage, dem Halali der Totenfledderer, schien die Luft schon unheilgeschwängert, als sich Annegret mit ihren Kindern auf den Weg machte. Gerade am Abzweig zum Mäuseturm vorbei, brach eine Rotte aus der Böschung. Statt zügig die Strasse zu überqueren, trabten die Schwarzkittel neugierig grunzend um den alten Renault 4 herum. Zwei erdreisteten sich sogar, mitten auf der Strasse zu kopulieren und der Eber schien sich extra heute mit dem Orgasmieren besonders viel Zeit zu lassen.
Nina zuckte mit den Schultern und sagte: "Frau Müller schreit auch immer so. Nur noch lauter!"
Wenig später sahen die Kinder einen Vogelschwarm mitten durch die Flügel eines der Windräder fliegen. Mindestens zehn von ihnen wurden getroffen und fielen wie ein Stein zu Boden.
Angekommen an Oma Kasulkes Haus dann auch noch die schon gierig wuselnden Verwandten!
Sie wären am liebsten umgedreht und wieder nach Hause gefahren.
Doch dann wäre alles, was die Geier nicht eingesackt hätten, achtlos im von Onkel Gottlieb bestellten Container versenkt worden.
So zwangen sie sich trotz ihres Widerstandes ins Haus, die wenigen Dinge zu retten, von denen sie wussten, dass sie Oma Kasulke besonders am Herzen gelegen waren.
Zuerst verpackten sie die angeschlagene Kristallvase, in denen ihre Großmutter immer frische Vergissmeinicht hatte, weil sie ihrem Franz zu Lebzeiten so gefielen.
Danach schlugen die Kinder das geblümte Milchkännchen ein, das immer auf dem Küchentisch gestanden hatte. Der von Opa eigenhändig geschnitze gezwirbelte Kochlöffel, das gußeiseren Waffeleisen und die Spitzendeckchen aus der unteren Schublade fanden genauso einen Platz in Omas speckigem Lederkoffer wie ihr Gesangsbuch und die abgewetzten Spielkarten, mit denen sie immer Mau-mau gespielt hatten.
Als sich unter den anderen Verwandten ein Streit um das Silberbesteck entzündete, verzog Annegret sich mit den Kindern in den Keller.
Dort fanden sie das alte schwarze Damenrad ohne Gangschaltung, das sie der syrischen Familie am Ende der Strasse brachten. Deren Kinder hatten Oma Kasulke immer wieder die Einkäufe nach Hause getragen, als diese sich wegen ihres Schwindels nicht mehr traute, mit dem Rad zu fahren. Sie bekamen auch die schwere gusseiserne Pfanne, einige Töpfe, die Flotte Lotte, die Handtücher und die Kinderbücher, die Großmutter ihren Enkeln immer vorgelesen hatte. Sogar über Opa's altes Werkzeug freuten die Syrer sich und schleppten die ganze Familie miteinander die schwere Werkbank in ihren Schuppen.
Mittlerweile hatten sich die meisten der faulen Verwandten mit ihrer Beute verzogen und Annegret, Nina und Nino waren mit Onkel Gottlieb und seinen zwei Söhnen alleine im Haus. Sie wuchteten das alte zerschlissene Sofa und die Sessel in den Container und schwitzten um die Wette.
Als alle Zimmer leer waren, fiel Nina noch der kleine Speicher ein, den man nur gebeugt durch den Wandschrank an der Dachschräge betreten konnte.
Dort fanden sie Spinnweben, ein altes Wespennest und - ein Holzkästchen voller vergilbter Briefe, Photos und Postkarten.
Obenauf lagen zwei Bücher und zwischen ihnen das handgeschriebene Gedicht.
Da es in Sütterlin geschrieben war, musste Annegret vorlesen. Währenddessen stöberte Onkel Gottlieb in der Kiste und fand ein Bild von sich als junger Mann in Uniform. Darauf stand: Mein liebster Gottlieb - ich bete, dass Du heil wieder zu uns zurückkehrst!
Als Annegret in dem Moment zufällig gerade den Schlussvers las, hatten alle Tränen in den Augen.
Doch es waren keine der Trauer.
Oma Kasulke stand sicher jetzt oben, tupfte sich mit einem Zipfel der Kittelschürze die Augen und sagte dabei wie immer, wenn sie die Rührung überkam:
"Das passiert mir nur, wenn ich dem Glück auf den Versen bin!"