Tausend

 

Tausendsassa, Tausendfüssler und Tausendnäschen schoben ihre Einkaufswägen über den Asphalt. Tausendnäschens Gefährt hatte ein defektes Rad. Es schlackerte und der Wagen brach immer wieder nach links aus. Näschen kämpfte, um nicht an irgendeine der Luxuskarossen anzustossen. Der Schweiss rann ihr in Bächen übers Gesicht und unter den Kleidern den Körper hinunter.
"Immer muss ich so ein Pech haben!" Sie gab dem blöden Wagen einen wütenden Schubs, als sich das Rad schon wieder quergestellt hatte. " Mist, blöder!"
Das Rad hüpfte über einen Stolperstein und - wie schon befürchtet - knallte der Gitterwagen mit voller Wucht an den hinteren Kotflügel eines geparkten Sportwagens. Zu allem Unglück kippte er auch noch um, und der gesammte Einkauf verteile sich gleichmässig neben und unter dem Auto.
Tausendnäschen stand stocksteif da, dicke Tränen kullerten ihr über Wangen und Nasenflügel. Ihre Brüder waren schon in den nächsten Gang eingebogen und an ihrem Lachen konnte man bemerken, dass sie ahnungslos waren und den Aufprall nicht gehört hatten.
Nun muss man wissen, dass Näschen kein normales Mädchen ist. Sie hat von Geburt an die äusserst seltene multible superpermeable Nasenhaarstenose, kurz Stenase genannt. Diese Anomalie gewährt ihr einerseits ein schier unglaubliches Unterscheidungsvermögen in der Wahrnehmung von Gerüchen, führt andererseits aber zu einem Totalausfall sämtlicher motorischer Nervenfasern im Falle eines Schocks oder bei besonders starken Emotionen.
Zuerst noch zitterte sie am ganzen Körper und versuchte den Einkaufswagen wieder aufzustellen, doch als sich aus dem Sportwagen ein grimmig dreischauender bis unter die Haarspitzen tätowierter Typ herausschälte und sie barsch anfuhr, was denn das nun gewesen sei, begannen ihre Muskeln zu zucken, um dann in Sekundenbruchteilen ihren Körper in eine bewegungslose Skulptur zu gefrieren.
Zwar erfasste der Fahrer des Sportwagens gleich, dass er das blutjunge Ding etwas zu heftig angepfiffen hatte und redete beruhigend auf sie ein, doch es war zu spät.
Wären ihre Brüder gleich zur Stelle gewesen und hätten ihr das Wattebäuschchen mit Pfaffenhütchenextrakt, das sie vorsorglicherweise immer mit sich führten, unter die noch vibrierenden Nasenflügel gehalten, wäre sie innerhalb weniger Minuten wieder aufgetaut. So jedoch war der Schaden irreversibel und das Mädchen konnte zeitlebens nur noch ihre Augen bewegen und ein klitzekleines Bisschen mit den Zehen wackeln. Der Wandel war unumkehrbar.
Alles nur wegen dieser unsäglichen Schlackerräder an Einkaufwägen, die jeden von uns mindestens schon einmal den Nerv geraubt haben. Für den Schaden kamen, wie sich jeder denken kann, natürlich weder die Einkaufswagenhersteller noch irgendeine Versicherung auf. Angesichts der stetig steigenden Anzahl aussergewöhnlicher Krankheitbilder in unseren Tagen mutet dies etwas rückständig an, ist jedoch im Sinne einer ungebremsten Gewinnmaximierung durchaus nachvollziehbar.
Zum Glück war der Muskelprotz entgegen der landläufigen Vermutung ein richtiges Herzchen, der auch nur im ersten Schreck heftig reagiert hatte. Wem von uns würde das nicht passieren, wenn uns einer eine Delle in unser frischpoliertes heiliges Blechle fährt?
Also - der Fahrer des Sportwagens stellte sich als bekannter Fernsehkoch heraus. Nachdem er die Tragweite des Vorfalls und die speziellen Hintergründe von Tausendnäschens Krankheit erfasst hatte, gab er ihr einen Arbeitsplatz in seiner Sterneküche und erhielt dank ihrer untrüglichen Nase einen unsterblichen Ruf als Maistro. Das Mädchen hatte einen drehbaren Sockel mitten in der Küche. Auf einer Seite das Schneidebrett, auf der anderen der Herd, hinter ihr das Gewürzregal und vor ihr der kochende Sportwagenfahrer. Da durfte sie dann, anders als wir, ihr Stupsnäslein in alles stecken, was um sie herum vorroch.
Strahlten ihre Äuglein - war alles gut, wackelten ihre Zehen, brachte man ihr eine Schüssel ... oder trug den Topf dorthin.

Da sie auch noch ein aus- und einnehmend hübsches Ding war und ( nicht nur ) bei zufälligen Berührungen im Arbeitsalltag ihre Augen zu strahlen begannen, verliebte er sich in sie, sie auch in ihn und sie wurden ein Paar.
Ein aussergewöhlich harmonisches Paar, denn sie stritten nie. Nicht etwa, wie sie einwenden mögen, weil Männer Frauen bevorzugen, die nicht widersprechen. Nein. Denn neben diesem zugegebenermaßen grossen Vorteil ihrerseits besass auch er ein frohes Gemüt und eine angeborene Bescheidenheit. Bei jedem Stern und jedem Preis, den errang, betonte er, dass er ohne sein geliebtes Tausendnäschen nie über die Fähigkeiten eines etwas über dem Durchschnitt brutzelnden Kochs gekommen wäre. Ihr und einem defekten Einkaufswagenrad hätte er es zu verdanken, dass er nun nicht nur im Kochhimmel sein dürfe. Er danke Gott, ...undsoweiterundsofort - diese Leier ersparen wir uns und kommen gleich zum Fazit:

1. Anderssein kann glücklich machen - leider meist andere.
2. Der erste Einduck trügt - so man nicht genau hinschaut und den Wagen mit den schlackernden Rad stehenlässt.
3. Fernsehköche sind auch nur Menschen und Tausendsassen können nicht überall sein.
4. Ab und an das Maul halten kann durchaus zum Vorteil gereichen.

Sicher sind in dieser Geschichte noch mehr Weisheiten zu finden, doch in Anbetracht der Tatsache, dass aller guten Dinge drei sind und ich somit schon über dass Ziel hinausgeschossen bin, überlasse ich dem geneigten Leser das Auffinden derselben.