Versteinadler

 

 

 

Krähen. Kahle verkrüppelte Bäume. Auf der Netzhaut noch ein Bild von immergrünen Buchsbaumkugeln im Kiesquadrat. Ein leerer Brunnen.Trostlose Ruinen seiner Kultur.
Den Geist sorgsam verschlossen, wartet er auf etwas. Einen Ruf, den Befehl. Er weiß es nicht. Knisternde Deeprissionen mäandern verloren in trübem Winterlicht. Wann - wann endlich wird die Zeitenwende den Horizont erhellen? Wann darf der Hoffnung verblassender Schein der Sonne weichen? Er wartet schon so lang im Nichts. Er hat sich eingerichtet im elenden Grau, sich eingereiht in der Warteschlange zur güldenen Zukunft. Er hatte es geahnt, wähnte sich gut vorbereitet auf seinem Weg durch die innere Wüste. Den Kopf voller wohlmeinender Hinweisschilder, den Bauch vollgeschlagen mit nährenden Ratschlägen, eingehüllt in schützende Erinnerungen, schlug er sich durchs dornige Dickicht von Verboten und moralischen Grundsätzen, immer der verschnupften Nase nach. Manchmal warnte ihn strenger Brandgeruch, weckte kurz seinen Instinkt. So konnte er wenigstens den schlimmsten Höllenfeuern ausweichen. Ihre alles verschlingenden Flammenzungen von den herzerwärmenden seines Zieles unterscheiden. Des Zieles, das er erst erkennen und zu beschreiben vermag, wenn er es erreicht.
Doch mit der Zeit wurden seine Schritte immer langsamer, immer kürzer die Augenblicke mit freier Sicht zurück ins Tal oder hoch hinaus zum Gipfel. Je höher er kam, desto tiefer hingen die Wolken, desto weniger konnten ihn seine fein gewebten Gedankenkleider wärmen. Kalt, kahl und grausam lang wurde der Aufstieg. Seine Kräfte schwanden und immer häufiger traf sein mittlerweile löchriger Gedankengang auf Steine des Anstosses und verfing sich in tief wurzelnden Zweifeln oder dornigen Verästelungen der Ungeduld. Wo zu Beginn des Aufstieges noch unschuldige Begierden und jungmännliche Neugierde seine Sandalen in Siebenmeilenstiefel zu verwandeln vermochten, schlurften sie nun über lebloses Geröll geborstener Wünsche und noch nicht vollständig zu Staub zerfallener Trugbilder. So hatten sich Tempel um Tempel, Altar um Altar in ferner Vergangenheit verloren.
Irgendwann war er stehengeblieben.
Nichts in ihm drängt jetzt weiter, nichts zieht zurück. Inmitten der Wolken, der eisigen Kälte, die bis ins Mark seiner Knochen gekrochen ist, hat er sich in Stein verwandelt. Er trotzt so den Gezeiten und dem Fluss seiner gefriergetrockneten Tränen. Wartet nicht mehr. Vergessen das ziehende Sehnen, spürt er nicht die lähmende Ohnmacht, die ihn an Ort und Stelle hält.
Einzig die Umrisse der Statue lassen die Anmut und Kraft, den Überfluss an Leben und pumpendes Herzblut erahnen, den sprudelnden Geist, der sie geformt und bis in diese einsamen Spähren getragen hat.
Ob er um die Zweige weiß, die nun sein Haupt krönen? Ob er die Krallen und den Schlag der schweren Flügel spürt, bevor nur noch der gebogene Schnabel und wachsame Adleraugen über den Rand des Horstes hinausschauen. Hat die Wärme über den nun gesprungenen Eiern auch seinen Geist erreicht? Werden ihn die hungrigen Schreie der jungen Greife erwecken, bevor sie sich ängstlich aber unausweichlich sicher in den Abgrund neben ihm fallen lassen? Äonen vollstes Vertrauen auf deren Tragkraft?
Wird er selbst den nächsten Schritt wagen, so die Sonne wieder seinen Horizont erreicht?
Wird er ihnen folgen und sich auf den Schwingen des Geistes aufs Neue in schwindelnde Höhen tragen lassen?