Triangulatore Schwipsmich war beileibe kein redseliger Typ. Als Überbleibsel einer antiquierten Zeit, in der Buchstaben zwar nicht mehr geschnitzt wurden, aber noch auf so etwas rückständiges und ressourcenverschwendendes wie Papier gedruckt wurden, hätte er sicher einiges Interessantes zu erzählen gehabt. Doch - wie heißt es so schön? - der Gentleman schweigt und genießt. Wobei genießen in Trias`s Fall wohl eher das falsche Wort gewesen wäre. Hinnehmen hätte es besser beschrieben. Trias war Autist.

Aber von vorne.
Bibliothekare waren in der Regel noch nie besonders gesprächig. Insbesondere Trias nicht. Schon als Kind musste man ihm die Würmer aus der Nase ziehen, wenn man seine lebhafte Mimik nicht zu deuten wusste und er sich hinter die fleischzerfetzenden Monsterbrombeerhecken im Wintergarten zurückgezogen hatte, um der verwirrenden Realität der Hekticktackmenschen, wie er die Erwachsenen in seiner Umgebung nannte, zu entkommen. Er hatte sich dort ein Palettenbett aus Europaletten und leeren Kartoffelsäcken gerichtet und kam nur heraus, wenn es Essen gab oder Tante Muckfuck mittwochs auf der Zitter spielte. Dann wiegte er sich lächelnd zwischen den Bohnenstangen und Kiwiranken hin und her und vergaß Alles um ihn herum. Damals kamen dann Worte wie: Oh! und Schöööön! über seine Lippen und die Familie wusste, dass er sprechen kann und ihm doch ein wacher Geist innewohnt.

Eigentlich hieß er Peter, doch da er das Zitterspiel der Tante oft begeistert mit einer Triangel begleitete und der Kater Herkules zwischenen Beinen Muckefucks dazu laut und wohlig schnurrte, wurde er von allen bald nur noch Trias genannt.
Irgendwann einmal bemerkten sie, dass sich der seltsame und schweigsame Junge einen Tunnel unter der Hauswand hindurch bis zur Bibliothek des Vaters gegraben hatte. Dieser war eines dunklen Wintertages sanft lächelnd in seinem Lesesessel mit der Enzeklopädia Subdominalis Purpura Mösialis auf seinem Schoß entschlafen. Die Familie hatte den Raum seither gemieden und so nie bemerkt, dass sich dorten ihr seltsamer Sprößling die meiste Zeit des Tages und auch vieler Nächte aufhielt. Schmalhüftig, wie der Junge war, musste der Gang nur einen relativ kleinen Durchmesser haben und so fiel das kleine Häuflein Abraum hinter den Hecken niemandem auf. Zwar bemerkten sie den Kerzenschein durch die trüben, seit Jahren nicht geputzten Scheiben. Doch abergläubisch wie sie waren, wären sie nicht einmal im Entferntesten in die Nähe der Idee gekommen, dort herinnen einmal nach dem Rechten zu sehen. Vater spukt wieder, hieß es allenthalben.

Es war wieder Tante Muckefuck, die eines Tages die Idee hatte, dem kleinen Jungen nach dem Zitterspiel etwas Bildung angedeien zu lassen. Als sie ihm den Erlkönig vortragen wollte, begannen seine Augen an zu strahlen und er setzte das Gedicht zum Erstaunen der Tante nach wenigen Zeilen alleine und ohne zu stocken bis zum Ende fort. Die schlaue Tante konnte Eins und Eins zusammen zählen, die Bibliothek wurde geöffnet und der Gang gefunden.

So kam es, dass Trias zu einer Lehre in die städtischen Lesesäle geschickt wurde. Da er sich jederzeit recht schnell hinter dem nächsten Bücherregal verstecken konnte, wenn ihm jemand zu nahe auf die Pelle rückte, fühlte er sich dort sehr wohl und wurde, als der alte Amtsrat starb, automatisch dessen Nachfolger. Er vervollständigte neben den alltägliche Aufgaben in den darauffolgenden Jahren dessen Steckenpferd, ein überaus umfangreiches Baumhoroskop, und überließ es den jüngeren Angestellten, sich in die neue Bildschirmtechnik einzuarbeiten.

"Bücher können zwar auch abstürzen," wurde er mit einem seiner wenigen Ausprüche gerne zitiert, " sie verlieren jedoch dabei nicht ihren Inhalt!"

Am jährlichen Personalausflug nahm er nur ein einziges Mal teil. Zwar machte ihn das Alter etwas toleranter und er mochte seine Angestellten, da sie ihn in der Regel in Ruhe arbeiten ließen, doch das Sammeltaxi war dann doch des Guten zuviel. Danach sah man ihn selbst in der Bibliothek nur noch von Weitem. Seine Arbeitsaufträge und Entscheidungen lagen jeden Morgen für jedermann leicht auffindbar auf dem altertümlichen Schreibpult und da sie ihn kannten, störte sich niemand weiter daran.

Und nun kommt der Grund für das Ihnen hier vorliegende Schriftstück. Soeben wurde festgestellt, dass Triangulatore Schwipsmich vor etwa einer Woche verstorben ist. Zwar fanden die Angestellten seit Anfang der Woche keine Aufträge mehr auf dem Pult, doch das hatte sie nicht weiter verwundert, noch mißtrauisch gemacht. Gefunden hat man ihn nebenan im Tropenhaus des Stadtgartens nahe der Wand hinter den Schlingewächsen. Eine breite schwarz wimmelnde Termitenstraße führte dorthin und machte einen der Gärtner stutzig. Die Tiere verschwanden im Loch eines Ganges, der auf der anderen Seite im Gewölbekeller der Bibliothek endete. Beziehungsweise begann. Da man im Gang nur noch sein vollständiges Gerippe fand und die anderen Mitglieder seiner Familie schon vor einem halben Jahrhundert irgendwohin unbekannterweise in die Staaten gezogen waren, einigte man sich schnell darauf, seine Gebeine dort zu belassen und die Öffnungen auf beiden Seiten mit einer marmornen Grabtafel zu verschließen.

Im Moment wird noch nach einer passenden Inschrift für die beiden Steine gesucht. Ernstgemeinte Vorschläge sind an die städtische Bibliothek zu senden. Derjenige, dessen Inschrift schlussendlich graviert wird, erhält einen lebenslänglich geltenden Bibliotheksausweis ausgestellt.

In moderater Trauer und ewiger Dankbarkeit und Ehrerbietung

Die Belegschaft der städtischen Bibliothek Muffensausen, Alpkreis