Tüllgefühl

 

Es hätte eine filigrane Woche werden sollen. Eine Woche der leisen Töne, des tiefen Durchatmens. Nachmittage im Schaukelstuhl, an denen nur ab und an der Vorhang des geöffneten Fensters sich in einer leichen Sommerbrise bläht und in die friedliche Leere das Bild von Johanna heraufbeschwört.
Johanna beim Ballett und eine schwache Andeutung der zarten Schenkel unter dem Tüll. Das Sehnen und Dehnen zwischen meinen Schenkeln hätte mir ein kurzes Lächeln vor die Schwermut gezaubert und ich hätte seit langen einmal wieder mein Herz schlagen gefühlt.
Amors Pfeil, wie er an jenem Abend im Festspielhaus in mein Herz eindrang und meine ganze Welt auf den Kopf stellte. Auch wenn wir nicht wirklich harmonierten, unsere Welten und die Sicht darauf unterschiedlicher nicht hätte sein können und sie sich vor einem knappen Jahrzehnt einem Mann zugewandt hatte, der besser zu ihr passte, ist sie - die Erinnerung an sie, ein wichtiger Anker und, so widersprüchlich es auch anmuten mag, mir immer noch Garant für tiefe Seelenruhe. Der bekannte Spruch, dass die Dosis das Gift macht, passt auch für den Kontakt mit anderen Wesen.

Die Erinnerung an schöne Momente mit Johanna waren immer wieder Medizin, Labsal für mein Gemüt. Schon ein kurzer liebevoller Gedanke an sie macht meinen Alltag glänzender, so ähnlich wie Schuhcreme immer wieder meine schwarzen Schuhe erstrahlen lässt.

Ja - das war der Plan.

Doch aus filigran wurde viel Gram. Die Realität überholte wieder einmal den Vorsatz und drängte ihn wortwörtlich von der Straße der Träume in den Graben einer grausamen Wirklichkeit.

Kaum war ich am ersten Tag meines Urlaubs im Schaukelstuhl eingeschlafen, ließ mich das hässliche Geräusch des Telefons zusammenzucken und ich das Buch auf den Boden fallen.

"Herr Doktor? Ja, ich weiß, dass sie seit heute Urlaub haben. Nein, es ist nichts Dienstliches - es ist - es ist wegen ihrer Exfrau. Sie hatte einen Unfall. Ihr Mann ist schon am Unfallort gestorben und Sie hat schwere innere Blutungen. Sie ist zeitweise bei Bewusstsein und hat nach ihnen gefragt ..."

Ich sitze hier neben ihr und halte ihre Hand. Niemand kann sagen, ob sie es schafft. Und wenn, werden sie die Brüche der Wirbelsäule bis ans Lebensende ans Bett fesseln. Sobald sie wach ist, bescheren ihr die Kopfverletzungen von einem Augenblick zum anderen Krämpfe und Schmerzen, die sie wie von der Tarantel gestochen zusammenzucken und schreien lässt, das es mir durch Mark und Knochen fährt.

Doch sie hat mich erkannt - flüstert meinen Namen und lächelt. Das ist alles was jetzt zählt!
Nun bin ich ihre Dosis, ihre einzige Medizin. Kurz war er da, der Gedanke an Flucht. Doch ich will und kann nicht feige sein!



Morgen wird sie entlassen. Tagsüber ist für sie gesorgt und am Abend werde ich sie in den Schaukelstuhl setzen und das Lächeln, wenn sie mich erkennt, wird wieder den Tüll meiner Seele aufbauschen.

Auch wenn es so nicht geplant war!