Schatten!

 

Wie auch immer die Nachwelt von mir denken mag, der letzte Rest von Selbstachtung zwingt mich, Ihnen noch vor meinem letzten Atemzug von etwas zu berichten, das auch Ihnen bis zum Tod das Dunkel der Nacht zum siebten Dezember zum immer wiederkehrenden Quell von finstestem Grauen machen wird. Ich hoffe, Ihnen ist es nach dieser Lektüre vergönnt, einen eigenen Ausweg aus den Qualen der Ungewissheit zu finden, und nicht wie ich irgendwann doch in den Fängen des Wahnsinns zu landen.

Es begann an einem kalten aber klaren Novembermorgen. Nichts wies darauf hin, dass sich für mich an diesem Tag das Blatt zum Bösen wenden sollte. Wie immer stand ich früh auf, fütterte die Hunde und entließ sie kurz darauf auf unser von hohen Mauern umfriedetes Anwesen. Dies war eine Tätigkeit, die ich trotz Personal immer selbst erledigte. Ich liebe die frühen Morgenstunden und genieße es, ungestört mein Frühstück an einem kleinen Tisch am Fenster der Küche zu mir zu nehmen.

Das Fenster geht gen Osten und es ist ein überwältigender Anblick, wenn die Sonne über dem Fahrtweg zu unserem Anwesen aufgeht. Zuerst beginnt der Torbogen von unten an zu glühen und kurz darauf, wenn das erste Drittel der Sonne über den Horizont schaut, leuchten die Blätter der Allee. Es scheint, als ob Gott entschieden hätte, dem Tag mit etwas Glanz die Bedeutung zu geben, die wir Menschen ihm in unserer Hektik und chronischen Unzufriedenheit zumeist verweigern. Im Sommer steigerte ich diese Wirkung noch durch das Öffnen eines Fensterflügels. Tausende jubilierende Vogelstimmen begrüßten dann mit mir den Tag. Für mich begannen diese Morgende bis dahin jedenfalls in völliger Harmonie. Sie schenkten mir so die Kraft, die Anstrengungen und Widrigkeiten des Arbeitstages freudig anzunehmen.

Auch an diesem Morgen schien Alles seinen gewohnten Gang zu gehen und ich richtete mich zum Verlassen des Hauses. Hätte ich dem Schatten im Gang Beachtung geschenkt, der mich beim Zuknöpfen meines Mantels kurz ablenkte, wäre vielleicht Vieles anders verlaufen. Doch so zog ich nur kurz fragend eine Augenbraue hoch, war aber sogleich gedanklich wieder bei den anstehenden Verkaufsgesprächen des kommenden Tages. Ich ließ die Hunde zurück ins Haus, wies Anna, die Hausdame an, ihnen die Pfoten zu reinigen, bevor sie sie in den Salon ließe und fuhr kurz darauf durch das nun nicht mehr leuchtende Hoftor.

Selbst am Arbeitsplatz und beim Mittagessen im Club hätte es genügend Zeichen gegeben, mich zu warnen. Immer wieder tauchten für Momente in meinen Augenwinkeln Schatten auf, die ich mich weigerte zu bemerken. Ihnen mehr Bedeutung beizumessen, als nur kurz daran zu denken, dass ich mir wohl baldigst ein paar Wochen Urlaub gönnen sollte, um nicht genauso zu enden wie mein Vater. Dieser beendete sein langes Arbeitsleben nicht etwa mit der wohlverdienten Pension, sondern verstarb ganz plötzlich an einem nächtlichen Herzinfarkt. Wieder und wieder flatterte etwas an mir vorüber, doch ich verschwendete keinen Gedanken daran, so war ich in mein Tagesgeschäft vertieft.

 

Wenn ich heute zurückschaue, wäre noch oft die Möglichkeit gewesen, das nahende Unheil zu bemerken und- wer weiß - sogar noch abzuwenden. Denn noch lebte meine Mutter. Doch wie alles auf der Welt, das man als gegeben hinnimmt, ohne sich darüber Gedanken zu machen, nisteten sich die Schatten bei mir ein und wurden mit der Zeit zur unbeachteten Gewohnheit. Irgendwann tauchten sie des Nachts gehäuft auf und beschatteten kurz die Züge meiner Gattin. Sie schlief neben mir, während ich oft noch las. Oder das Geflatter verdunkelte das Licht der Leselampe für einen Augenblick. Doch auch da dachte ich nur kurz an einen damals üblichen Spannungsabfall in der Stromversorgung und maß dem Phänomen keinerlei bedrohliche Bedeutung bei. So konnte sich das Böse unbemerkt bei mir einnisten und seine Fäden unbemerkt in meinem unschuldigen Geist spinnen.

 

Ich sollte Ihnen nun noch etwas Wesentliches gestehen. Mütterlicherseits stamme ich aus einer Vampirfamilie, deren Linie bis auf den Urvater aller Vampire zurückzuführen ist. Allerdings sind Halblinge wie ich nicht auf Blut angewiesen und haben keinerlei Probleme mit Sonnenlicht. Da echte Vampire schon immer auf die Hilfe von Halblingen angewiesen sind, um unentdeckt zu bleiben und ihre Tagesgeschäfte zu führen, schauen sie zwar mit etwas Verachtung auf uns herab, doch sie lassen uns in der Regel in Ruhe unser normales Menschenleben führen. Ich selbst war bis zu diesem Zeitpunkt nie mit einem meiner Vorfahren dieser Blutlinie in Kontakt gekommen. Ich denke, das habe ich meine Mutter zu verdanken, die ihre Herkunft zeitlebens erfolgreich zu verbergen vermochte. Sie pflegte zwar nicht mit uns zu speisen, doch wir waren dies gewohnt und machten uns keinerlei Gedanken über ihre Nahrungsaufnahme. Ich glaube, dass wir sie deshalb normal altern sahen, weil sie sich vom Blut unserer zahlreichen Nutztiere ernährte, statt von Menschenblut. Seit ich um meine Herkunft weiß, wundert es mich nicht mehr, dass bei uns zu Hause Fleischspeisen in Riesenmengen auf den Tisch kamen und ich als Kind fast an jedem Tag der Woche einem Metzger beim Schlachten zuschauen konnte. Ich erinnere mich an den allabendlichen Spaziergang meiner Mutter um die Ställe und das Schlachthaus. Von meinem Kinderzimmer aus konnte ich als kleines Kind schon die Fledermäuse beobachten, wie sie sie dabei umschwärmten. Sie glichen den Schatten, die mich heute heimsuchen.

 

Die kleinen Doppelpünktchen, rot und juckend wie Pickelchen, die mich jeden Morgen veranlassten, kalt statt warm zu duschen, hätten mir ein zusätzliches Warnsignal sein können. Doch es ist schon lange zu spät, zu lamentieren. Es ist geschehen und nicht mehr rückgängig zu machen. So sehr ich mir das auch wünschte.

 

Sie denken, ich hätte mich selbst in einen Vampir verwandelt? Damit liegen sie gar nicht mal so falsch. Zwar sind meine Eckzähne wirklich ein Stückchen gewachsen, zeigen an ihrer Spitze sogar jeweils ein kleines Loch, doch zwingt mich kein Drang nach Menschenblut nachts durch dunkle Straßen und Hinterhöfe zu streifen. Das wäre das bei Weitem geringere Übel gewesen.

 

Um endlich zum grausamen Ende zu kommen:

Ich habe Knecht Ruprecht gebissen und all die Engel, die mit ihm auf seiner Spielwiese über dem Geschenkelager lagen. Zwei Tage vor Nikolaus, bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und stand in seinem Zimmer. Der Mond schien glutrot durch die glitzernden Butzenscheiben und spiegelte sich auf den prallen Brüsten der nackten Engel um ihn herum. Die Höfe ihrer Warzen wirkten wie kleine Ableger des Mondes und unter meinem Cape regte sich Gigantisches. Doch es war keine Zeit an Erotik zu verschwenden. Auch von den feucht glänzenden Schmetterlingen, die zwischen den Schenkeln der Engel zu flattern begannen, ließ ich mich nicht beirren. Wie ferngesteuert näherten meine Zähne sich der Halsschlagader Knecht Ruprechts und gruben sich wegen des struppigen Bartes mit etwas Widerwillen in seinen faltigen Hals. Bei den beim Biss leise stöhnenden Engeln verspürte ich eher angenehme Gefühle. Wie hätte ich mich gefreut, wäre eine von ihnen erwacht und hätte sich mir freudig mit zarter Haut und kitzelnden Federn hingegeben. So jedoch entfaltete ich nach getaner Arbeit meine schwarzen Flügel, erhob mich lautlos und - erwachte schweißgebadet in meinem Bett.

 

Nur ein Traum denken Sie und lehnen sich beruhigt zurück?

Was glauben Sie, wie groß mein Schrecken und Entsetzen war, als ich zwei Tage später in der Zeitung diese Überschrift las:

 

Mehrere Kinder in Nikolausnacht entführt!

Polize ratlos. Eltern haben allesamt nichts gehört. Am Morgen waren die Betten leer. Nur eine schwarze Feder lag auf dem Kopfkissen. Einzig eine mondsüchtige Mutter berichtete, dass sie fast vom Dach gefallen wäre, weil sie dort in dieser Nacht von unheimlich vielen Fledermäusen umschwärmt wurde.

 

Bisher wurde keines der Kinder wiedergefunden. Und um mich flattern von Jahr zu Jahr mehr Schatten.