Das ungestrafte Wort



Welch grausames Wort. Einerseits strahlt es uns mit seinem Schein an, auf der anderen Seite ist es der Begleiter großer Täuschungen, dunkler Machenschaften und der Boden, auf dem Dramen unbegrenzt wachsen, sowie der beste Lieferant für jede Gerüchteküche. Es hat dank seiner dunklen Seite schon so viele Existenzen gekostet, so viele Hoffnungen und Zuversichten auf dem Gewissen und kommt doch ob seiner Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, seit jeher ohne jede Strafe aus. Schon die folgenden Zitate und Sätze zeigen seine Versteckspielqualitäten. Unscheinbar, harmlos und doch wirksam stiehlt es sich immer wieder in unser Leben und schert sich einen Dreck um das Chaos und das Leid, das es verursacht. Nur wenn es sich selbst versteckt, verliert es seine Brisanz.

Er zahlte ohne jeden Schein bar. Mit Münzen.

Er küsste zum Schein Barbara.

Scheinbaracken säumten die Gleise Stalins.

Wasch ein Barschfilet nie unter fließend Wasser!

"Hasch ein Bartschneider?"

"Gibt es auch solch eine Flasche in Barolo?"

Sie war unscheinbar, ein richtiges Mauerblümchen!

„Wenn ich erschein, bar jeder Verpflichtung!“

„Siehst Du den Heil’genschein, Barnabas?“

 

Es scheint fast, als ob es zwischen Unscheinbar und Scheinbar keinen Unterschied gäbe.

Hier stockt des Schreibers Fluss. Hat es sich denn auch hier schon eingeschlichen? Hat seine Gedanken unmerklich so gelenkt, der Muse Antlitz so täuschend echt kopiert, seinen Eigendünkel so gestreichelt, dass es ihm nicht aufgefallen ist?Nicht einmal dem Leser, der bisher zwar wohlwollend weitergelesen hat, doch sich langsam fragt, wohin ihn diese Zeilen führen sollen. 

Es ist typisch für ihn: Er kommt zu früh! Verschießt seinen Sermon gleich zu Anfang und muss sich dann etwas ganz und gar Absurdes buchstäblich aus den Fingern saugen. Meist kommt dabei erstaunlicherweise etwas ganz Annehmbares heraus.

 

Also noch mal von vorn. Das Unwort weniger buchstäblich betrachtet, eher direkt im Leben und gerade deshalb noch schwerer zu erkennen.

Beginnen wir mit einem Namen: Ricolas Kräuterzucker. Ricolas, auch Ruckola genannt wegen seines ruckeligen Gangs, den jeder Bewohner der kleine Stadt schon oft wegschauend gesehen hat. Es ist Samstag. Ricolas schreitet wieder einmal in seiner unnachahmlichen Art über den Marktplatz. 

An zwei Tischen des vollbesetzten Cafès fallen die typischen Bemerkungen: "Das man so was noch frei rumlaufen lässt, …!" Dem fehlenden S beim Dass zufolge kann sich der Leser denken, welch Geistes Kind der Sprecher ist.

"Guck mal, ein stotterndes Känguruh!"

Diese "Aber bitte mit Sahne"- Kuchenesserin sollte sich besser zurückhalten. Es könnten uns bei genauer Betrachtung ihres Aussehens selbst despektierliche Äußerungen herausrutschen.

 

Wenden wir uns sicherheitshalber lieber wieder Ricolas zu!

Er ist fast schon hinter dem nächsten Marktstand verschwunden und die Cafébesucher richten ihre Aufmerksamkeit wieder ihren Getränken zu. Da hebt sich in ihrer Mitte eine kleine Hand und wedelt herum.

"Riiiiiico" ruft es von dort. "Ricoooo! Nun bleib doch mal stehen!"

Rico dreht sich in Richtung der Stimme, sucht kurz und beginnt zu strahlen. Seine Beine tragen ihn plötzlich fast ruckelfrei zwischen die Tische.

"Miriam! Welch schöne Überraschung! Was verschlägt Dich denn in die Provinz? Ich dachte, Du wohnst in LA." Innig umarmen sie sich.

"Ja, ich wohne immer noch dort. Mit Robert, meinem Agenten und - seit zwei Monaten auch Ehemann. Hier in der Stadt bin ich wegen einer Erbschaftsgeschichte. Großtante Elfriede ist gestorben und hat mir ihr Häuschen vermacht. Papierkram und Ämtergerenne! Aber erzähl, wie kommst du hierher?"

Rico lächelt verschmitzt.

"Ich ahnte, dass ich Dich hier wieder treffe. Und da bin ich hierher gezogen, dass ich dich am Ende nicht noch verpasse! Nun kann ich beruhigt wegziehen. Du bist ja leider vergeben.”

Miriam lacht.

"Alter Charmeur! Du weißt doch, dass unsere Liebe keinen Trauschein braucht! Sei froh, jetzt muss ein Anderer meine Macken aushalten. Du weißt, dass mehrere Studios dein letztes Buch verfilmen wollen? Wenn Du magst, kannst du während der Dreharbeiten bei uns wohnen."

Rico nickt zögerlich.

"Ich weiß. Doch irgendwie bin ich unsicher, seit ich den Prozess gegen den Pharmariesen gewonnen habe. Dem, welchen ich meine Behinderung verdanke. Alleine der Titel: "Scheinbar - Reichtum jenseits von Portemonnaie und Erfolg!" Die müssen mir schließlich fünf Millionen zahlen. Wie passt das noch zusammen? Das wird ein gefundenes Fressen für die Dreckschleudern von der Presse. Wahrscheinlich würde sogar das Studio da mitspielen. Schließlich steigert ein Skandal die Verkaufszahlen. Ich glaube, das erspare ich mir lieber und untersage die Verfilmung. Die Sprüche hier vor Ort sind schon genug!

"Menno! Und ich dachte, ich bekäme die Hauptrolle!" Miriam schaut traurig, aber nickt. „Ich kann Dich gut verstehen. Verzeihen werde ich Dir aber nur, wenn Du mich trotzdem besuchen kommst! Mindestens einmal pro Jahr!“

Sie stockt.

„Oh - übrigens kenne ich dort einen Neurologen, der einen neuen Ansatz zur Regeneration des motorischen Nervensystems entwickelt hat. Komm mich besuchen und ich stelle dich ihm vor."

Er nickt. Sie wirkt nachdenklich.

"Sag mal, warum schreibst Du nicht noch einen Nachspann zum Film? Was es mit Dir macht, wie es dein Leben nun verändern wird. Unterstütz mit einer Stiftung andere Opfer des Konzerns. Damit stopfst den Dreckschleudern der Presse das Schandmaul. Du bliebst authentisch und ich bekäme die Rolle im Film. Das wär doch eine Idee!”

 

Ob Ricolas Kräuterzucker nun darauf eingeht oder nicht und welche Auswirkungen die jeweilige Entscheidung auf seinen Lebensweg hätte, darf sich der geneigte Leser nun selbst ausdenken. Auch ob der Schein nun trügt, trägt, oder gar blendet, ist noch nicht hinreichend geklärt. Auch dass sich das Scheinbare durch das Gehörte peinlich berührt aus den inneren Beurteilungen der Tischnachbarn zurückgezogen hat, darf vom Leser bezweifelt werden.