Der Schrei

Sie schrie. Schrie so laut sie konnte. Lauter, als sie je geschrien hatte. Und sie hatte oft geschrien.
Laura war eine Frau mit wunderschönen langen Haaren. Blond und lockig. Rechts und links neben ihren ausdrucksstarken hellblauen Augen rahmten lustige Schillerlocken das zarte Gesicht. Ihre zierlichen Ohren schmückten silberne Halbmonde und über den vollen blutroten Lippen lugte eine Stupsnase frech in die weiße Winterwelt. Ein kuscheliger weißer Schal wärmte ihren Hals und passte genau zur Pudelmütze, mit der sie ihre Haarpracht gebändigt hatte.
Ihr roter Filzmantel ließ sie fast wie die weibliche Ausgabe des Nikolaus erscheinen. Der große, prall gefüllte Jutesack neben ihr verstärkte diesen Eindruck noch.

Laura stand an der Bushaltestelle und zitterte wie Espenlaub. Eben noch war sie fröhlich, ein Weihnachtslied trällernd aus dem Kaufhaus gekommen und hatte sich riesig darauf gefreut, die soeben eingekauften Dinge in das schön glitzernde Geschenkpapier mit Rentieren und Engeln und goldenen Nüssen für die Kinder des Theresienheims einzupacken. Für jedes Kind hatte sie etwas Besonderes gefunden, von dem sie wusste, dass es ein geheimer Herzenswunsch ist.

Doch dann kam der Bus. Hermann hatte aus dem Fenster direkt neben der Tür geschaut, sie gesehen und ein teuflisches Grinsen war über seine Züge gehuscht. Laura war augenblicklich eingefroren. Der schon zum Einsteigen gehobene Fuß war wieder vom Trittbrett gerutscht und sie wäre beinahe hingefallen. Der Busfahrer hatte ein paar Sekunden gewartet, als sie keine Anstalten machte, einzusteigen, hatte er kopfschüttelnd die Türe geschlossen und war abrupt losgefahren. Fast über Lauras Jutebeutel, der ihr aus der Hand gerutscht und über die Bordsteinkante auf die Straße gerollt war.

Jetzt stand Laura da und schrie.

Zum Glück war gerade niemand in der Nähe, sonst hätte sie sicher jemand angesprochen. Das hätte sie nur noch tiefer in die Abwehr getrieben. So aber beruhigte sie sich ganz langsam wieder. Sie atmete tief in den Bauch, schob ihre Aufmerksamkeit in die Fußzehen und schrie. Das heißt, mittlerweile tönte sie nur noch und bewegte sich rhythmisch vor und zurück.
Vor und zurück.
Vor und zurück.
Bis die Töne tiefer wurden und die Tränen kamen. Dann stampfte sie knurrend noch ein paarmal fest auf und merkte, wie das Herz wieder langsamer schlug und auch ihr Atem wieder langsamer und rund wurde, statt wie eben noch stoßartig und hektisch zu sein.

Laura zog ein besticktes Taschentuch aus der Manteltasche und wischte sich trotzig die Tränen von der Wange. Aus dem Knurren wurde ein Zischen und Stück für Stück kehrte ein entspannter Ausdruck und schließlich wieder sogar ein kleines Lächeln in ihr eben noch verzerrtes Gesicht zurück.

Jetzt war sie sogar ein bisschen stolz auf sich.

Und unendlich dankbar auf ihre Therapeutin. Sie hatte fast schon nicht mehr daran geglaubt. Denn früher war sie nach jeder Begegnung mit ihrem Stiefvater zusammengebrochen und danach monatelang in einer tiefen Depression festgehangen. Die Medikamente hatten sie träge und fett gemacht. Geholfen hatten sie nur wenig.
Erst als Jutta sie unterstützt hatte, ihre Gefühle offensiv zu zeigen und mit ihr zusammen wieder und wieder durch die schlimmsten Momente gegangen war, hatte sie neue Hoffnung geschöpft. Auch der ihr eigene Lebensmut und etwas von ihrem übersprudelndem Temperament war allmählich in sie zurückgekehrt. Selbst das verhasste: "Mein bitterzartes Püppchen - komm zu Papa!" wurde so lange beschrien, getrampelt und behält, bis es sie nicht mehr in ihre Träume verfolgte und mit einem richtig wütenden Zunge-Rausstrecken in die Flucht geschlagen wurde.

Laura war glücklich.

Noch würde sie zwar keinen Mann körperlich näher an sich herankommen lassen können, doch sie spürte ganz deutlich, dass nun der Bann gebrochen war. Sie war leer. Endlich. Das Gesicht Hermanns war verschwunden, so schnell wie es gekommen war. Sie fühlte den rauen Sack und sein Gewicht mit den Geschenken in ihrer nun wieder kalten aber lockeren Hand und freute sich wie zuvor auf das liebevolle Verpacken der Liebesgaben und die Vorfreude auf den Glanz in den Augen der Kinder ließ ihr fast das Herz überlaufen.
Ja, das Herzklopfen verstärkte sich noch, als sie sich erinnerte, dass heute Abend Lars vorbeikommen würde, um ihr beim Verpacken zu helfen.

Als der nächste Bus hielt, wurde der Busfahrer wieder von ihrem bezaubernde Lächeln begrüßt. Es war das Strahlen, das auch sonst alle um sie herum zum Mitlächeln animiert und das ihr den Spitznamen Rauschgoldengel eingebracht hatte.