Traumatage

 

 

 

Tief hinten in der schwärzesten Dunkelheit scheint ein Faden sich durch den Vorhang des Absoluten Nichts zu kämpfen. Der Faden taucht nur kurz auf; mal als Punkt, als kurzer Strich oder Bogen blitzt er auf, dann als Welle oder Spirale und ist so schnell wie er gekommen wieder verschwunden.
Frühlingsbilder tauchen auf. Sie nehmen mich sofort gefangen. Ihre warme Hand, Maiglöckchenduft hinter Erika's Ohrläppchen, ihre Lippen auf meinen. Der Wind stellt die Häarchen ihres Nackens und spielt mit ihnen wie sein Bruder im Sommer mit den Halmen der Getreidemeere. Wellen der Wärme, der Wolllust, der Freude tanzen durch meine Adern. In meiner Hose wächst ein mächtiger Maibaum. Hormone tanzen Ringelreihen. Blütenkränze lassen ihre Blätter durch mein Hirn schweben. Sie legen sich wie ein Teppich über meine Gedanken und die Zeit scheint stehenzubleiben. Die Sterne über uns blinken nach dem ersten Kuss so heftig wie unsere Herzen klopfen. Venus selbst scheint angetan von unserem Glück. Ob es wirklich Venus ist, wissen wir natürlich nicht, doch in unserem Taumel sehen wir in allen Sternen die Liebesgöttin.
Wenn ich es schaffe, die Gefühle dieser Szene kurz beiseite zu schieben, ist mir, als wolle Venus durch diesen Tunnel erneut zu mir durchdringen. Was hindert sie nur daran?
Tropfen hämmern auf ein Blechdach, kreischende Bremsen eines einfahrenden Zuges lassen den Tunnel in sich zusammenfallen. Meine Augen öffnen sich mit den Waggontüren und meine Gedanken strömen in den neuen Tag. Manche von ihnen wären lieber weitergefahren.Sie zögern auf dem Trittbrett. Andere haben es eilig, wollen schnell auf den Bahnsteig, hinaus auf die Strasse, hinein in die Herausforderungen, die das Leben ihnen heute bietet. Gnadenlos schieben sie die Zögernden vom Trittbrett. Irgendwann einmal werden die Träumer im Abteil sitzenbleiben, sich unbekannten Zielen entgegensehnen, dem Licht am Ende des Tunnels.
Doch nun müssen sie, mitgerissen von der Geschäftigkeit mit hochgeschlagenem Mantelkragen durch altbekannte Strassen, an den immergleichen nach Aufmerksamkeit heischenden Schaufenstern vorbei laufen. Sie bleiben in sich gekehrt und sind froh, wenn sie den Friedhof, den Park oder den Zoo erreicht haben und sich auf ihre Parkbank setzen dürfen. Einige von ihnen packen ihr Vesperbrot aus und füttern damit die Spatzen, andere wärmen in ihren Manteltaschen die gnädige Flasche, die ihnen gerade so über den Tag hilft. Es gibt auch welche, die in regelmäßigen Abständen mit Seiten rascheln und es schaffen, sich für einige Stunden zwischen den Zeilen vor dem Alltag zu verstecken.
Eines ist ihnen Allen gemein. Es ist das Wissen, dass auf jeden Tag eine Nacht folgt. Es lässt sie die grellen Stunden überstehen. Am Abend werden sie im Schutze der Dunkelheit hinter den Lidern der Fenster wieder ihre Traumstraße finden. Weit ab von morgendlichem Kaffeeduft und frisch gebackenen Frühstücksbrötchen.

Meine Hand tastet nach der erlösenden Taste, bis mir einfällt, dass ich diese aus gutem Grund unerreichbar ans andere Ende des Zimmers verbannt habe. Nun gut, dann halt nicht! Mittlerweile sind meine Beine halb erwacht, hangeln sich widerwillig über den Bettrand und erreichen gemeinsam mit meinem Gähnen den Ausknopf.
Ein paar Schritte und zwei Hände voll kaltes Wasser später gurgelt die letzte Ahnung mit ein paar Traumfetzen träge den Abfluss hinunter.
"Den Syphon muss ich endlich mal wieder freimachen. Dass die Mädels ihre Haare auch immer im Becken lassen müssen!"