Minui und der Beobachter

 

 

Hätte sie denn so Jemanden, könnte ein Lebensabschnittsbegleiter oder besser ein unsichtbarer Beobachter das Mädchen Minui einem ganz Fremden als geheimnisvoll funkelndes Nachtschattengewächs beschreiben. So aber darf sie auf dieses zweifelhafte Kompliment verzichten. Es wäre ehrlich gesagt auch nicht ganz richtig. Denn von Natur aus ist Minui zwar eine Einzelgängerin, aber ganz tief drin liebt sie den Tag. Den frühen Morgen, wenn der Nebel die aufgehende Sonne wie ein verspätetes Elmsfeuer wirken lässt und die Vögel ihr berauschendes Konzert beginnen. Auch den Mittag, wenn die senkrecht stehende Sonne fast keinen Schatten wirft und alles schon so prallvoll mit Licht gefüllt ist, dass Blüten, Blätter und selbst die Früchte eine weitere Aufnahme verweigern und es zu ihr zurück schicken. Sogar den frühen Abend liebt Minui, dieses verhaltene Licht, das noch so lange als nur möglich zögert zurück zu weichen, um der Dunkelheit Platz zu machen.

 

Doch stets betrunkene Eltern und intrigante, zumeist dumpfbackige fiese Gleichaltrige in Kindheit und Jugend, die den Großteil des Tages laut und schrill bevölkerten, zwangen sie auf die Nacht auszuweichen.

Dort und nur dort fühlt sie sich vor der Penetranz der Tagmenschen sicher.

 

 

Wobei der anfangs genannte fiktive Jemand spätestens jetzt energisch den Kopf schüttelt. Denn Minui verbringt die meiste Zeit überhaut nicht in Einsamkeit und Stille. Nein. Sie ist Stammgast in den Nachtbars ihrer Stadt und bekannt in allen Diskotheken einer jeden benachbarten Kleinstadt. Dort flirtet sie, was das Zeug hält und tanzt ausgelassen bis in die frühen Morgenstunden.

Zumindest gibt das für Außenstehende gerade nicht das Bild eines Menschen, der den Tag liebt und den Kontakt zu den Menschen am liebsten meidet.

 

 

Nur eines muss unser Begleiter zugeben. Minui ist noch nie mit einem ihrer Bewunderer zusammen verschwunden! Keiner hat sie je außerhalb der Lokale mit irgendjemandem zusammen gesehen. Dies müsste ihn nachdenklich stimmen. Doch wenn wir berücksichtigen, dass Minui so schön ist, so wundervolle, funkelnde Blicke in den Nächte verschenkt, dass die davon Getroffenen augenblicklich entzückt sind, ahnen wir, dass selbst der gedachte Begleiter so von ihr beglückt wäre, dass die Hoffnung auf eine Zukunft mit mehr von diesen verzaubernden Blicken ihn blind für alle anderen Einsichten machte. Er wäre, um seine Chancen zu erhöhen, so intensiv und unrettbar beschäftigt, sich ein inneres Handbuch auf dem Weg zu einer Vereinigung mit ihr zu entwerfen, würde eher voll hoffnungsvoller Sehnsucht des Morgens seine Chancen im Kaffeesatz suchen und für sie seine schon etwas knubbelige Figur mit morgendlichen SitUps zu stählen, dass ihm nicht im Entferntesten einfiele, dieses kleeine aber immens wichtige Detail zu bemerken.

 

Und wenn er es denn bemerkte, würde er sich erfolgreich einreden, dass sie eben auf ihn hätte warten müssen, da nur er ihr den Himmel auf Erden bereiten könne. 

Punkt. Aus. Amen!

 

So hofft er inständigst, wenigstens recht bald in den Besitz ihrer Telefonnummer zu kommen. Wird sich stündlich tausend Mal vorstellen, wie ihr erstes Telefonat verliefe.

Und solange wird er wie all die Anderen am Rand der Tanzfläche stehen und sich nicht sattsehen können an ihr. Er wird sich vorstellen, wie es ist, wenn sie ihn endlich erkennt und wie sie dann wild entbrannt, lüstern und liebevoll ihre Desoxyribonukleinsäuren mischen und. Und. Und.

 

 

Und das bis in alle Ewigkeit. Wie all die anderen Jungs, denen sie nur ein einziges Mal ein Lächeln geschenkt hat. Sie schenkt jedem nur ein einziges Lächeln. Konsequent! Er weiß das. Doch er wird seine Seele gegen solch Anfechtungen mit seiner geballten Hoffnung polstern. Seiner überwältigenden Sehnsuch! So dass ihm auch wirklich niemand diese träumerische Vorstellung von einer Zukunft mit ihr nehmen kann.

 

Genau dies ist das Problem. Er wird scheitern. Denn solange er ihre wahre Natur nicht erkennt und den ihr inneliegenden Widerspruch vorbehaltlos akzeptieren kann, wird er sein, wie ein Geiger, der verzweifelt versucht, sein Instrument perfekt zu stimmen und nicht bemerkt, dass ein Saxophon keine Saiten besitzt. Er wird sich den teuersten Bogen mit den edelsten Haaren kaufen und doch keinen Ton aus dem Instrument herausbekommen.

 

 

Deshalb bleibt Minui Einzelgängerin und Nachtschattengewächs. Denn all die Musikanten der Dunkelheit machen ihr mit ihren Streichversuchen keinen funken Lust, geschweige denn Angst. Angst, die etwas in ihr bewegen könnte und so vielleicht ihr Interesse wecken. Doch so muss sie bei wummernder Musik keine schwachsinnigen Gespräche führen. 

Deshalb ist sie dort. Niemand kommt ihr wirklich nahe. Und zur Not ist sie Meisterin im plötzlichen Verschwinden.

 

Hoffen wir für sie, dass sich eines Tages ein Saxophonspieler in ihrer Nacht verirrt und mit ihr zusammen in den Morgennebel zu den Vogelgesängen flüchtet. Wünschen wir ihnen, dass sie gemeinsam ihre uralten Ängste verlieren und gegen Mittag freudig gemeinsam keinen Schatten werfen. Wenn sie dann noch zusammen den Abend erreichen, ... - dürfen wir sie beglückwünschen! Uns aus tiefster Seele freuen.

 

Aber was sie zusammen täten, das ginge uns jetzt gar nichts mehr an. Wirklich nicht, auch wenn der Wunderfitz uns noch so plagte. Selbst den virtuellen Beobachter sollten wir dann schleunigst abberufen und ihn auf ein für ihn passenderes weibliches Wesen ansetzen. Vielleicht sogar diesmal eines mit Saiten, damit er ihm zeigen kann, dass er durchaus den Bogen raus hat.

 

So aber bleibt uns nur, ihmzu wünschen, dass er bald den Unterschied zwischen Penetranz und Resonanz erkennt. Das wäre schon verdammt viel wert!